2.2 Neustadt zum Ende des 19. Jahrhunderts bis 1914
Bereits am 05. April 1863 wird in der heutigen Brauereistraße die Zementgießerei Johann Wilhelm Ernst Schulz gegründet. Wann die Firma an Johann Kurz sen. überging, konnte nicht ermittelt werden, 1914 gehört sie noch J. Schulz. Wann genau Johann Kurz die Zementgießerei übernommen hat, konnte bisher nicht ermittelt werden.
Der wirtschaftliche Aufschwung, den man überall in Deutschland nach der Zahlung der französischen Kriegskontributionen nach 1871 beobachten konnte, machte sich auch in Neustadt bemerkbar.
Ein weiterer Entwicklungsschub wurde durch das 1873 erlassene Reichszivilstandgesetz begünstigt. Es schuf Freizügigkeit im Handel, hob alle Zunftschranken und auch die Beschränkungen im produktiven Bereich auf.
1879 waren einige der acht hölzernen Stützen des Rathausturmes so morsch, dass sie ausgewechselt werden mussten. Das erforderliche eiserne Gitter und eiserne Säulen wurden durch Zimmermeister Eduard Müller für 1.700 Mark angefertigt.
1880 erhielt die Stadt einen Bahnanschluss. Ein Ereignis mit weitreichenden wirtschaftlichen Folgen.
Hier müssen wir uns die Meinung der Neustädter Bürger zum Bau der Eisenbahn ansehen. Sie haben eine ganz andere Sicht auf die sich entwickelnden Dinge.
So äußerte sich z.B. der Bäckermeister Possehl in einem Gespräch mit Lehrer Fritz Langner:
„Nach dem Bahnbau ging es in Neustadt zurück. Alle Fuhrwerke, die solange das Vieh, die Fracht über Neustadt nach Ludwigslust brachten, blieben aus. Neustadt wurde zum Dorf. Schaufenster gab’s damals in der Großen Straße (heutige Breitscheid-Straße) nicht. Nur Ascher (heute Biemann) und Löser (heute Chinarestaurant) und Kaufmann Koch (das heutige Wohnhaus von Prill) hatten Fenster mit etwas größeren Ruten (alte Maßeinheit).
Noch in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte zu Weihnachten nur die alte Frau Graff (heute Friseur Gerd Förster) Weihnachtssachen ausgestellt. Links wurde die beste Stube ausgeräumt und da die Puppen, Hampelmänner usw. ausgestellt. (…). Ein weiterer Neustädter meinte um 1880:
„Wenn Neustadt noch 200 Jahre steht, so fällt es von allein zusammen.“
Doch die weitere Entwicklung zeigte, dass die Schwarzmalereien übertrieben waren.
Am 25. August 1882 trafen sich mehrere Geschäftsleute unserer Stadt und gründeten den Gewerbeverein Neustadt. Zu den Gründungsmitgliedern zählten: Buchhändler Böteführ, Schlossermeister Boltz, Drechslermeister Bruhns, Lehrer Feilcke, Kaufmann Koch, Stellmachermeister Krey, Zimmermeister Müller, Kaufmann Paschen, Gastwirt Podein und Rentner Trechow. In der Gaststätte von Podein, dem „Hotel zur Linde“, fanden die Versammlungen statt. Wie wir sehen können, waren in diesem Verein viele Berufe vertreten.
Dieser Gewerbeverein war eine Bereicherung für unsere Stadt. Es gingen von ihm viele Anregungen aus, die auch in die Tat umgesetzt wurden. So wurde bei der Vorstandssitzung am 24. März 1892 der Vorschlag unterbreitet, bei Neubauten außerhalb der Stadt Vorgärten anzulegen. Wie die entstehenden Bahnhof-, Ludwigsluster und Parchimer Straßen zeigten, wurden solche Ideen auch verwirklicht.
Die 1882 von der Firma Horney & Rödler aufgekaufte Dextrin- und Stärkefabrik wurde 1902 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt.
Das war die Grundlage für die Entstehung der „Johann-Albrechts-Werke AG“, einem Werk, in dem zu besten Zeiten 700 Beschäftigte Lohn und Brot fanden. Dieser Betrieb stellte Eisenbahnwaggons und Loren her, baute Stahlbrücken und andere Stahl- und Gusskonstruktionen und auch Eismaschinen. Wir würden heute sagen, durch Missmanagement musste diese bedeutende Firma schon 1912 aufgeben.
Im September 1890 wurde das Schweriner Tor an den hiesigen Bauunternehmer Roock für 900 Mark verkauft. 950 Mark kostet die Verbreiterung der dortigen Brücke, zu der die Stadt einen Zuschuss von 200 Mark gewährt.
Die Nachtwächter Rump und Ollenschläger erhielten im Tor für je 24 Mark Miete eine Wohnung. Doch bereits im Herbst 1891 wurde dann das Tor abgebrochen.
1891 wurde in unserer Stadt die „Schlossbauerei“ gegründet und seit dem 01. Oktober 1892 wurde hier das Neustädter Schloss-Bräu gebraut. 40) Obwohl hier ein hervorragendes Bier gebraut wurde, musste die Produktion nach rund 25jäh-riger Tätigkeit eingestellt werden.
1919 siedelte sich auf dem Gelände der ehemaligen Brauerei die „Mecklenburgische Fleischwarenfabrik“ Emil Lücke an. Die Geschäfte liefen gut. Die Firma Lücke war das einzige Unternehmen in der ganzen Umgebung, das in der Inflationszeit das angelieferte Schlachtvieh sofort bar bezahlte. So konnten die Viehverkäufer in dieser schweren Zeit das Geld gleich weiterverwenden. Aber leider bestand auch diese Firma nicht sehr lange. 1926 musste die Firma Konkurs anmelden.
Das „Ludwigsluster-Tageblatt vom 26. April 1895 meldet:
„Dem Direktor Bellot soll (...) auf Kosten der Stadt ein neues Wohnhaus gebaut werden.“
Gemacht wurde dieser Vorschlag vom Gewerbeverein, umgesetzt wurde dieser Vorschlag 1896. L) Aus dem „Ludwigsluster Tageblatt“ vom 07. Juli 1896 erfahren die Leser:
„(…) Im Jahre 1890 war Neustadt mit 1743 Einwohnern die kleinste Stadt Mecklenburgs, (…).“
Am 02. Oktober des Jahres erfolgt eine weitere interessante Meldung desselben Blattes: „Neustadt, 27. September. Das hiesige Kaiserliche Postamt wird am 1.Oktober d. J. [1995] nach dem neuerbauten, auf dem Schlossplatze gelegenen Mietspostgebäude übersiedeln, welch Letzteres von Herrn Maurermeister Greiffenhagen – Ludwigslust erbaut ist. Am 30. September wird der Dienstbetrieb noch im vollen Umfange im jetzigen Gebäude wahrgenommen werden.“
Aus dem „Ludwigsluster Wochenblatt“ vom 04. Februar 1896 erfährt der Leser:
„Neustadt, 31. Jan. Der hiesige Gewerbeverein hielt gestern Abend unter Vorsitz des Direktors Bellot eine Generalversammlung ab. Es wurde berathen über die Einrichtung einer Vorschule zu der hiesigen höheren Knaben- und Mädchenschule und beschlossen, solche Vorschule zu Ostern d. J. ins Leben zu rufen.
(Vom Gewerbeverein) ist eine Bibliothek gegründet, ca. 100 Bände stark, welche vom Verein für Verbreitung von Volksbildung bezogen sind. – (...).“
Hier eine weitere Meldung der Zeitung vom 25. Februar 1896:
„Neustadt, 21. Februar. In letzter Raths- und Bürgerausschusssitzung wurde endgültig beschlossen, die Firma Horney & Rödler hier zu beauftragen, zum 1. September d. J. eine elektrische Straßenbeleuchtung herzustellen. Die Lampen sollen 1200 Stunden jährlich brennen, wofür die Firma 1300 Mark erhält, eingestellt werden 60 Lampen, kostet für die Stunde 1 ¾ Pfg. pro Lampe.“
Hier nun weitere zusammengefasste Meldungen der Zeitung zum Verlauf der Arbeiten:
„Neustadt, 13. Juli. Da zum 1. September die elektrische Straßenbeleuchtung unserer Stadt fertig sein soll, so hat man jetzt mit den Vorarbeiten zu derselben den Anfang gemacht. (...) Auch eine große Anzahl Privatleute wird anstatt des Petroleums das elektrische Licht benutzen. Die Anlage hat die Firma Horney & Rödler übernommen.“
Im „Neustädter Anzeiger“ vom 08. August 1896 lesen wir:
„Nachdem mit der Installation der elektrischen Beleuchtung begonnen wurde, machen wir hierdurch bekannt, daß wir allen denjenigen Einwohnern der Stadt Neustadt, welche den Anschluß an das Netz bis zum 15. August d. J. bei uns anmelden und sich zur Abnahme elektrischen Stromes kontraktlich binden, sowohl den Anschluß an das Netz als auch die gesamte innere Einrichtung, die zur elektrischen Beleuchtung der anzuschließenden erforderlich ist, unentgeltlich, bzw. noch zu denselben Bedingungen auszuführen bereit sind, unter denen wir dies bei den bereits kontraktlich gebundenen Lichtabenehmern tun.
Wir machen an dieser Stelle nochmals ausdrücklich darauf aufmerksam, daß alle diejenigen, die den Anschluß bis zu dem oben genannten Termin nicht anmelden, bei einem eventl. späteren Anschluß an das Netz unter allen Umständen sowohl die Kosten des Anschlusses als auch die Kosten der gesamten inneren Einrichtung selbst zu tragen haben werden.“
Und der „Neustädter Anzeiger“ vom 16.Oktober meldet:
„Die elektrische Lichtanlage ist jetzt bis auf die Kabellegung in der Elde beendet. Zwei Taucher, welche für die Arbeit 1400 Mark erhalten, sind augenblicklich mit dem Versenken des Kabels beschäftigt. Auch der hiesige Bahnhof wird elektrisch beleuchtet werden, ebenfalls auch ein in der Nähe liegendes Dorf, Kietz, wohl das erste Dorf Mecklenburgs, welches sich des elektrischen Lichtes erfreut.“
Am 16.März 1905 wird vom Gewerbeverein mitgeteilt, dass eine Molkerei-Genossenschaft gegründet wurde, die 86 Mitglieder hat. Nach längeren Verhandlungen wird die Genossenschaft am 02.September 1905 Eigentümer dieses Grundstücks, der heutigen Bahnhofstraße 36. Von Mai und September des Jahres liegen Bauzeichnungen der Molkerei vor, daher ist der Baubeginn auf 1906 zu datieren. Verwalter ist 1913 der 1888 geborene Heinrich Gehrke. 1961 wurde hier ein Raum zur Käseherstellung geschaffen. Nach der Wende wurde es Wohn- und Geschäftshaus.
1982 wird die Molkerei geschlossen und das FNG richtet hier eine Konsumgüterproduktion (Lampenschirme) ein.
1990 zieht das Fernmeldewerk aus und es entstehen Wohnungen.
Dem Protokoll vom Rats- und Bürgerausschuß vom 11. November 1905 ist zu entnehmen, dass die Dömitzer Holzpantinen-Fabrik „Kabel & Ahrens“ aus dem Kämmereigebiet bei der Eisenbahnbrücke eine Fläche von 720,7 Qudratruten (rund15.351 m2) erworben hat. 1907 ging sie in Produktion und beschäftigte bald 60 Arbeitskräfte.L) Richard Kabel starb 51jährig 1913.
Seit der Machtübernahme der Nazis steht die Firma in dem Ruf, ein Hort des Kommunismus zu sein. 1934 wird die Firma für 15.000, - Mark an die Stadt verkauft. 1934 nimmt sich Willy Ahrens das Leben und im Januar 1937 meldet die Firma Konkurs an.
Die Jahre 1910/11 waren für die Neustädter besondere Glücksjahre. Die in Straßburg im Elsass beheimatete Aktiengesellschaft „Adler & Oppenheimer“ bemühte sich um neue Produktionsstätten. Ihre Wahl fiel auf Neustadt in Mecklenburg. Am 01. August 1910 beglaubigte der Bürgermeister, der gleichzeitig Großherzoglich Mecklenburgischer Notar war, den Verkauf der benötigten Ländereien.
Die günstige Lage des geplanten Lederwerkes, mit Bahnanschluss, mit Zugang zur Elde, als optimale Transportmöglichkeit für Rohhäute und Kohle und Spender von Brauchwasser, begünstigte das schnelle Wachstum des Werkes. 1911 wurde die Produktion von Bodenleder aus Rohhäuten aufgenommen.
Nach wie vor gingen vom Neustädter Technikum Impulse für die progressive Entwicklung der Stadt aus. Sie initiierten die frühzeitige Elektrifizierung der Stadt. Zwei Angehörige installierten die ersten Telefone.
Auch Bildungsarbeit, gerichtet an die Bevölkerung der Stadt, ging vom Technikum aus. Der Anstoß dazu kam vom Gewerbeverein, der sich am 04. April 1907 mit dem Bürgerverein zusammenschloss.“
Die weiteren ausführlichen Schilderungen möchte der Verfasser an dieser Stelle ausklammern. Das Lederwerk entwickelte sich zum größten Arbeitgeber unserer Stadt und seiner Umgebung.
Quelle: G. Düker „Neustadt-Glewe – Eine mecklenburgische Kleinstadt von den Anfängen bis zur Gegenwart“